Lionel Messi ist an der Fifa-Gala in Paris zum Weltfussballer 2022 gewählt worden. Ausschlaggebend war der mit Argentinien errungene Weltmeistertitel. Dieses vor dem WM-Final erschienene Porträt beleuchtet das Verhältnis zwischen Messi und seinem Heimatland.
Florian Haupt, Doha
8 min
Eine Reise war es, Lionel Messi verwendet das Wort selber. «Ich bin stolz, meine Weltmeisterschaftsreise mit einem Final beenden zu können», sagte er, als er nach dem WM-Halbfinal gegen Kroatien seine nächtliche Interviewtour absolvierte, frisch geduscht und doch schon wieder schwitzend unter all den Scheinwerferlichtern. Seine Zuhörer hatten lange auf ihn gewartet, unter ihnen waren viele, die den ganzen Trip verfolgt hatten. Sie wissen: Mehr als eine Reise war es eine Odyssee.
Nach langen Findungen und Selbstfindungen spielt der Mann, dem im Klub immer alles so leichtfiel, die fünfte und letzte WM für ein Land, mit dem es immer so unendlich mühselig war. «Ihr wisst doch besser als alle anderen, wie viel er hat einstecken müssen», sagte Argentiniens Verteidiger Cristian Romero den Reportern am selben Abend ein paar Meter weiter: «Doch er ist aufgestanden.»
Ja, Messi kann sogar Maradona sein
Kann einer als bester Fussballer aller Zeiten gelten, der nie Weltmeister war? Womöglich kann diese Debatte der letzten Dekade ab Sonntagabend für alle Zeiten historisiert werden. Schon vorher und unabhängig vom Ergebnis umwehte Messi in den letzten Tagen die Aura, dass er mit 35 Jahren das Vakuum seiner Karriere gefüllt, ihr letztes grosses Fragezeichen beseitigt hat. Ja, er kann alles sein. Auch für sein Land, dieses Argentinien, so leidenschaftlich, so fussballverrückt, so anspruchsvoll, denn es ist ja auch das Land von Diego Maradona, dem am meisten kultisch verehrten Kicker der Geschichte.
Ja, Messi kann sogar Maradona sein. Er kann Spiele allein entscheiden und sich dabei mit der ganzen Welt anlegen. Er kann verführen und Herzen erobern, er kann dieses einmalige argentinische Gefühlskino auslösen. «Du hast das Leben von uns allen geprägt, das ist grösser als jeder WM-Pokal, und das wird dir keiner mehr nehmen, diese Dankbarkeit von so vielen Menschen für einen Moment von so grossem Glück» – mit diesen Girlanden schloss eine Reporterin in der Nacht nach dem Halbfinal ihr Live-Gespräch, ihre Stimme brach fast dabei, Messi strahlte selig.
Lionel Messi zeigt sich in Katar als der einzigartige Fussballer, der er mit seinen Vereinen immer war. Kein anderer kann mit halb so viel Laufen doppelt so viel Wirkung erzielen. Keiner nimmt seine Eingriffe so klinisch vor, als hätte er den ganzen Match am eigenen Computer programmiert. Von zwölf argentinischen Toren an der WM hat er fünf geschossen und drei vorbereitet.
Der Kroate Josko Gvardiol ging für viele Experten als bester Innenverteidiger des Turniers in den Halbfinal – und nach einer Tanzaufforderung Messis bei dessen famosem Solo vor dem 3:0 als normaler Fussballer vom Platz. Gvardiols Captain Luka Modric, selber ehemaliger Weltfussballer, sagte danach: «Hoffentlich gewinnt Messi diese WM, er ist der beste Spieler der Geschichte, er hat es verdient.»
Die Parallele zur WM 1986: Argentinien hat wieder den Besten der Welt
Es wäre ein Skript, das man sich vor Turnierbeginn irgendwie schon vorstellen konnte angesichts der Formstärke sowohl Argentiniens (36 Spiele ohne Niederlage bis zur WM) als auch Messis (bester Scorer der europäischen Klubsaison). Dieses Drehbuch wurde auch sehnsüchtig inszeniert, etwa im Werbespot einer Brauerei, in dem Alltagsmenschen die obskursten Parallelen zur Maradona-WM 1986 beschwören, von der Uhrzeit des Final-Anpfiffs über die Himmelsposition des Jupiters bis zu den Teilnahmen Kanadas. Schliesslich finden sie die Koinzidenz, die sie wirklich an das Happy End glauben lässt. «Damals hatten wir den Besten der Welt», Zeigefinger in den Himmel. «Und jetzt auch!»
Der Werbespot mit den Parallelen zur WM 1986.
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Ein Skript also, wie es jeder erträumte, aber wie es gerade deshalb weggelächelt wurde. «Anda», geh’ weiter, wann kommt es im Leben schon einmal, wie es soll? Der beste Spieler, der beliebteste Sport, der wichtigste Titel, die letzte Chance: Das klang zu gross, selbst für ein Genre, das seriell Erlösungsgeschichten produziert. Und wieso würde Messi ausgerechnet unter dem zusätzlichen Druck beflügelt sein, wo er sonst immer ins Stottern geriet?
Gegen Saudiarabien noch mit apathischem Blick
Gegen Saudiarabien gab es in Katar zum Auftakt eine Niederlage, und alle Dämonen schienen wiederaufzuerstehen. In der Schlussphase hatte Messi wieder diesen apathischen Blick, der seit je höchste Alarmstufe indiziert. Es gab wieder Szenen, in denen er praktisch sein eigenes Gegenteil war, langsamer als die Verteidiger reagierte. Es konnte erinnern an 2014, seine erfolgreichste WM, weil Argentinien dort den Final erreichte. Aber auch die schlimmste, weil er nach einer ordentlichen Vorrunde in den entscheidenden Spielen ohne Einfluss blieb.
Damals hatte sich Messi vor der WM während einer Verletzungspause für mehrere Wochen nach Argentinien zurückgezogen, um sich seinem Land und sich selber anzunähern. Es gab Fotos, wie er im Muskelshirt mit Gitarre («sie hilft mir zu entspannen und das ganze Durcheinander aus meinem Kopf zu bekommen») und seiner Antonella unter einem Baum sass. Zu jener Zeit begann er auch, einen noch stärkeren argentinischen Akzent in sein Spanisch zu mischen, wie als verzweifelte Hommage an dieses Land, in dem er nur die ersten 13 Jahre seines Lebens verbrachte.
Nach Toren grüsst er seine Grossmutter im Himmel
Lionel Andrés Messi Cuccittini sollte eigentlich ein Mädchen werden, denn Knaben hatten die Eltern, Jorge und Celia, schon zwei (eine kleine Schwester kam dann noch später). Seine Grossmutter mütterlicherseits, ebenfalls Celia, brachte ihn als 4-Jährigen zu seinem ersten Fussballspiel und diskutierte mit den Trainern so lange, bis sie den eigentlich viel zu kleinen Knirps aufstellten. Natürlich schoss er dann zwei Tore. Als er zehn war, starb die Grossmutter, nach jedem seiner inzwischen 791 Tore als Profi streckt er irgendwo im Jubel beide Hände zum Himmel, als Gruss an Celia.
Mit acht trat er einem der beiden grossen Klubs seiner Heimatstadt Rosario bei, den Newell’s Old Boys, mit elf begann er eine Hormonbehandlung gegen seinen Kleinwuchs, mit dreizehn steckte er in der Sackgasse: Weder seine Eltern noch Newell’s noch ein anderer argentinischer Klub konnte oder wollte die immer teureren Spritzen bezahlen.
Messi kam nach Barcelona, er war hingerissen vom perfekten Rasen und dem Training in der Nachwuchsschule La Masia. Doch nicht alle Messis waren glücklich mit ihrem neuen Leben. «Was willst du machen?», fragte der Vater. «Bleiben», sagte Lionel. Die Familie trennte sich, Mutter, Tochter und ein Bruder gingen zurück nach Rosario.
Dass er kein richtiger Argentinier mehr sei: So lautete seit je der Stammtisch-Vorwurf. An der WM 2014 musste er sich während der Spiele übergeben, aber nicht einmal das schützte ihn vor Häme. Und es kam noch schlimmer. Ein Spieler, der sich mit Barcelona das Image eines strahlenden Siegers übergestreift hatte, verlor 2015 und 2016 auch die Finals der ausnahmsweise wegen des 100-Jahre-Jubiläums in zwei aufeinanderfolgenden Jahren ausgetragenen Südamerikameisterschaft. Jeweils gegen den kleinen Nachbarn Chile, umso peinlicher. Messi ein Verlierer, die Kritiken furios.
An der WM 2014 muss sich Messi mehrmals übergeben.
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War er nicht in seinem ersten Länderspiel 2005 nach nur 45 Sekunden wegen einer vermeintlichen Tätlichkeit vom Platz geflogen? Und 2006? «Schon da haben sie angefangen, an mir herumzunörgeln», erinnerte sich Messi kürzlich in einem Interview mit dem 1986er Weltmeister Jorge Valdano. «Ich weiss nicht, warum. Weil ich mir im Viertelfinal auf der Bank den Schuh gerichtet habe?» Gespielt hat er damals beim Ausscheiden gegen Deutschland keine Minute.
2016 befasst sich Messi mit dem Rücktritt aus dem Nationalteam
Nach den drei Finalniederlagen verordnete er sich 2016 eine Denkpause, in der er einen dauerhaften Rücktritt erwog. Das Land debattierte, es gab wohl nie wirklich eine Anti-Messi-Mehrheit, aber immer eine Mehrheit, die sagte, er werde nie ein Maradona. Für Messi musste es sich anfühlen wie: Er wird ihnen nie genug sein.
Argentinier sind extrovertiert? Messi war introvertiert. Argentinier sind theatralisch? Bei Messi galt es, die kleinste Geste zu interpretieren, so sparsam zeigt er Gefühle. Argentinier schmeissen sich in die Schlacht? Messi zog sich zurück, wenn ein Match «bravo» wurde, wild, wie es gerade in Südamerika oft vorkommt. Argentinier schmettern die Nationalhymne? Messi bewegte maximal die Lippen. Argentinier sind Abenteurer, die improvisieren? Messi sagt über sich, er sei ein Mensch, der die Dinge gern an ihrem Platz hat, den wenig so irritiert wie Unordnung und Unvorhergesehenes.
Messi blieb im Nationalteam, aber er blieb erst einmal abwartend, misstrauisch. Vor der WM 2018 begann er zwar plötzlich mit grösseren Interviewtouren, in denen er sich als klassischer argentinischer Leader zu inszenieren versuchte, als «caudillo». Aber es hatte etwas Aufgesetztes. Die WM endete im Achtelfinal gegen Frankreich und unter den üblichen Vorwürfen, er habe sich nur mit seinem Clan umgeben; er sei unfähig, ein Team zu einen, zu führen, zu inspirieren.
Vor den ganz grossen Verrissen rettete ihn zwar die geteilte Verantwortung mit einem chaotischen Verband und einem überforderten Trainer Jorge Sampaoli. Danach übernahm zunächst interimsmässig der U-20-Coach Lionel Scaloni mit Messis Kindheitsidol Pablo Aimar als Assistenten.
In seinem ersten Länderspiel sieht Lionel Messi kurz nach der Einwechslung Rot.
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Der ehemalige Aussenverteidiger Scaloni stand 2005 mit auf dem Platz bei Messis fatalem Einstieg mit der roten Karte («er hat überhaupt nicht aufgehört zu weinen»). 2006 war man zusammen an der WM. Scaloni ist Messis erster Nationaltrainer mit einer biografischen Verbindung, vielleicht spielt auch das eine Rolle bei der erstaunlichen Metamorphose, die Messi und Argentinien in den letzten Jahren durchlaufen haben und die sich nun in Katar so verdichtet hat.
Sie haben sich verheiratet, jetzt sind sie in den Flitterwochen. Nach dem Schlusspfiff gegen Kroatien versanken die beiden Lionels in einer endlosen Umarmung, der Trainer mit feuchten Augen.
Wer hat wen verändert und wie? Die argentinischen Fans sind geduldiger geworden, ein Werk Scalonis, «man schaut jetzt nicht mehr nur auf das Ergebnis», sagt Messi. Und er selber ist offener geworden. Er weiss, dass es zu Ende geht mit der Karriere, und spricht davon, jeden Tag zu geniessen.
Messi ist mittlerweile dreifacher Vater. Er musste im August 2021 seine Komfortzone Barcelona verlassen, weil im Verein plötzlich kein Geld mehr für ihn da war; er weinte, trauerte und haderte, es war das Unvorhergesehene, das er so hasst. Das Schlüsselerlebnis für die Kommunion mit Argentinien hatte beim Wechsel nach Paris allerdings schon stattgefunden. Wirklich zueinandergefunden, so prosaisch bleibt der Sport dann doch, hat man letztlich über den Erfolg.
Der Tag, der alles verändert hat
Im Juli 2021 erreichte Argentinien wieder den Final der Südamerikameisterschaft. Im pandemiebedingt leeren Maracanã von Rio de Janeiro ging es gegen den Gastgeber Brasilien. Vor dem Spiel versammelte Messi das Team zu einer gut einminütigen Motivationsansprache. «Wir gehen jetzt selbstbewusst und ruhig da raus, denn diesen Pokal werden wir mit nach Hause nehmen», schloss er.
Argentinien gewann 1:0. Der erste Titel seit 1993. «Er lässt alles viel einfacher, viel natürlicher sein», sagte Messi zu Valdano. «Stell dir vor, wir hätten diesen Final nicht gewonnen. Es wäre noch ein verlorenes Endspiel mit mir gewesen, ich hätte noch mehr Kritiken abbekommen.»
Seit jenem Tag muss er sich nicht mehr verflucht fühlen. Seit jenem Tag können ihn die Argentinier endlich lieben, ihn akzeptieren, wie er ist. Und wer sich akzeptiert fühlt, der kann auch Liebe geben. Die Reise geht zu Ende, Lionel Messi ist bei sich. Er hat jetzt alles. Er braucht allenfalls noch einen WM-Titel.
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